Der fiktive Tagebucheintrag meines Großvaters

Vogelsang, d 29.11.2010

Heute hat es wieder geschneit und das gefrorene Wasser hat  an den Fensterscheiben ein Geflecht erstellt, was einen an Efeu erinnert. Mir vergeht die Lust am Essen und am Trinken. Die Tage werden von Tag zu Tag gleicher. Ab und zu kommen meine Söhne vorbei, um zu schauen, wie es mir geht.

Meistens reden wir über dieselben Themen: Was in unserem alten Dorf von 150 Seelen passiert und was ich zum Mittag gegessen habe.
Leider habe ich es versäumt, eine väterliche Beziehung zu meinen Kindern und Enkelkindern aufzubauen, so dass wir nie über unsere Gefühle miteinander reden konnten.
Nun, gut. Sich darüber zu lamentieren bringt jetzt auch nichts mehr. Auf meinen letzten Tagen auf dieser Erde werde ich das nicht mehr ändern können.

Langsam merke ich auch, dass mein Gehirn mich im Stich lässt. Bis vor einem Jahr konnte ich  das Weltgeschehen noch aus meinem Sessel nachverfolgen. Doch mittlerweile werden für mich auch die einfachsten Zusammenhänge zusehends komplexer und undurchdringlicher. Seit kurzem baut mein Körper auch stark ab. Ich bin öfters im Krankenhaus.

Dabei sollte ich mich aber nicht beschweren. Ich bin nahezu ohne gesundheitliche Probleme durch dieses Leben gewandert – abgesehen von den 3 Schusswunden im 2. WK. Bei meiner Rettungsaktion sind 3 meiner Kameraden ums Leben gekommen. Ich lag dort 6 Stunden – ehe ich gerettet wurde. Das Gesicht meiner gefallen Kameraden ist jedoch präsenter denn je.

Den 2. WK habe ich auch – abgesehen von meiner Verletzung – halbwegs gut umschifft. Als Hufschmied war ich stehts hinter den feindlichen Linien positioniert und war so gut wie nie an der Front. Eigentlich müsste ich sogar noch 3 Tage in ein Gefängnis, weil ich mich weigerte, Partisanen zu erschießen – ich denke aber, das ist verjährt.
Nach meinem Lazarettaufenthalt habe ich mich dann für die Westfront gemeldet und alsbald desertiert. Interssanteweise wurden die „Ergebungsflugbläter“, die man großräumig über Frankreich abgeworfen hatte, bereits 1941 gedruckt.

Nach dem Krieg habe ich ruhige 35 Jahre als Bauarbeiter, später als  Bauherr, an den verschiedensten Stellen der Republik gearbeitet und mein Leben genossen. 3 Kinder habe ich bekommen – eines ist mit knapp 40 an Krebs verstorben.

Jetzt bin ich schon über 30 Jahre in Rente.

92 Jahre bin ich nun auf dieser Erde und selbstverständlich fragt man sich da, was man in seinem Leben erreicht hat. Nun, eigentlich habe ich kein besonderes Leben geführt. Meine Kinder sind irgendwie erwachsen geworden. Mit meiner Ehefrau habe ich eher eine Zweckehe geführt und meine Arbeit war auch nur 0815.

Manchmal würde ich gerne mit Helmut Schmidt reden, der ist genauso alt wie ich, um mal zu sehen, ob sein Leben besser war als meins. Vermutlich nicht.

ADDENDUM: Dinge, die in meiner Lebenszeit geschehen sind.

– Der letzte Kaiser
– Aufstieg und Fall der größten Massenmörder  der Welt (Hitler, Stalin, Mao)
– Kommunismus
– 2 Deutschlands
– Internet
– Telefon
– Handy
– Fernseher
– Computer
– Mondlandung
– RAF
– Kalter Krieg
– Atombomben
-Aufbau und Zerfall Deutschlands
-Der längste Frieden in Europa

Ich glaube, mit diesem letzten Spiegelstrich kann ich aufhören.

War es das alles Wert? Wer weiß…  Ich gehe jetzt auf jeden Fall in mein Bett und hoffe, dass ich die Augen zum letzten Mal auf dieser Welt zu mache.

Danke Welt, für mein Leben.