Die Ecke des Herrn K.

Herr K. ist ein Mann mittlerer Statur, dessen Erscheinungsbild keinerlei Besonderheiten aufweist, würde er nicht mit stets aufgerichtetem Rücken durch die Straßen laufen. Diese Eigenart von K. ist jedoch die einzige nennenswerte Abweichung vom Durchschnitt.

Nach jedem Arbeitstag fährt Herr K. mit seinem Opel Astra nach Hause zu seiner Familie, mit der er in einer Doppelhaushälfte wohnt, die er über 20 Jahre abbezahlt. Dort wartet bereits der von Serotonin getränkte Hund auf ihn, dessen gesamtes Tagesziel daraufhin abzielt, der gesamten Nachbarschaft mitzuteilen, dass soeben sein Herrchen K. in die Garage gefahren ist und nun seine Füße aus dem Auto setzt. Danach trottet er Richtung Hauseingang und lässt das elektrische Garagentor sich schließen. Im Haus warten bereits sein 7-jähriger Sohn und seine 5-jährige Tochter auf ihn. Seine Frau steht dann zumeist in der Küche und er hört, wie ihre Stimme ruft: “Hallo. Wie war dein Arbeitstag, Schatz?” Die restliche Zeit des Abends verbringt Herr K. damit, Abendbrot zu essen, seinen Kindern zuzuhören sowie ein, zwei Worte mit seiner Frau zu plaudern und nachdem Sie die Kinder ins Bett gebracht haben, gemeinsam vorm Fernseher einzuschlafen, noch ehe das heute-journal zu Ende ist.

In diese Reihenfolge spielt sich jeder Abend ab.

Am morgen wacht er um 6.45 auf, geht duschen, rasiert sich, kocht Kaffee für sich und seine Frau, weckt die Kinder und fährt um 7.50 zur Arbeit. Auf dem Weg zur Arbeit kommt Herr K. an einem Haus vorbei, das Ihn jeden Tag aufs Neue fasziniert. Dabei ist es nicht explizit das Haus, was ihm eine Freude bereitet, sondern es die Ecke an dem Haus. Die Ecke zwischen Eilenburger Allee und Kurt-Wagner-Straße, die ihn jeden Tag aufs neue verzückt. K. versucht, jeden Morgen an der Ampel vor dieser Ecke zu stehen, um dieses Gefühl und die Atmosphäre, die diese Ecke für Herrn K. vermittelt, für eine weitere Minute aufzusaugen. Abgesehen von den Veränderungen der Namensschilder an den Klingeln, hat diese Ecke über die Jahre keinerlei Veränderung erfahren.

Sie hat weder Risse noch abgeplatzte Wandstücke. Keine Jugendlichen haben in Übermut ihre Namen auf die Fassade gesprüht und sogar das Schwalbennest, das links über dem Eingang hängt, wird seit neun Jahren genutzt. Es scheint so, als würde über diese Ecke eine Zeitglocke hängen, die alle Veränderung unterdrückt oder so unendlich langsam ablaufen lässt, das ein Mensch es nicht mitbekommt. Für Herrn K. strahlt diese Ecke eine innere Ruhe aus, die vor allem dann zum Tragen kommt, wenn die rötlich warme Frühjahrssonne ihr Licht auf diese Ecke wirft und sie dadurch eine goldene Aura der Gelassenheit bekommt. Durch das Zusammenspiel mit dem Licht und den Schwalben wirkt es so, als würde die Ecke allen vorbeikommenden Fußgängern und Autofahrern zurufen:

“Schaut her, Passanten. Was hetzt ihr euch so des Weges? Seit nunmehr 33 Jahren stehe ich hier und mache nichts und dennoch habe ich nichts von meiner Schönheit eingebüßt. Der Mensch hat mich an diesen Ort errichtet und die Natur mit dem künstlerischen Farbanstrich das Ihre dazu beigetragen. Ihr geht jedoch vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen”

Diese Konstankte auf Herrn K.s Arbeitsweg ist tief im Wesen von Herrn K. verwurzelt. Jedes Mal, wenn er in die Eilenburger einbiegt, erhöht sich sein Herzschlag merklich und er fiebert der roten Ampel entgegen, wie ein 5-jähriges Kind seinem kurz bevorstehenden Geburtstag.

Die letzten drei Wochen musste Herr K. einen Umweg zur Arbeit nehmen. Als er an der Ecke stand, sah er, wie drei Handwerker auf einem Podest anfingen, ihre Pinsel mit Farbe zu benetzen. Auf dem Podest hing ein Schild:

Kliemann GmbH – Ihr Spezialist für Fassadenrestaurationen